Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIX

Verfahren Nr.920 - 924 (2002 - 2012), 880 (Erratum), 950 - 959 (1945 - 1960; Nachtragsverfahren)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.924 LG München II 12.05.2011 JuNSV Bd.XLIX S.227

 

Lfd.Nr.924    LG München II    12.05.2011    JuNSV Bd.XLIX S.229

 

GRÜNDE90

 

A. Einleitung

 

Der Angeklagte John Demjanjuk wurde nach seiner Gefangennahme durch die deutsche Wehrmacht im Mai 1942 in dem unter der Aufsicht der SS- und Polizeiverwaltung des sog. Generalgouvernements stehenden Lager Trawniki zum Wachmann ausgebildet und hat vom 27.März 1943 bis Mitte September 1943 in dem in Polen gelegenen Vernichtungslager Sobibor Wachdienste verrichtet. Durch diese Tätigkeit hat er an der von Hitler, Himmler und Göring angeordneten und im Reichssicherheitshauptamt und anderen Dienststellen des Deutschen Reichs im einzelnen geplanten, angeordneten und in ihrer Durchführung überwachten Ermordung von mindestens 28060 Menschen mitgewirkt, die in dieser Zeit mit 16 Transporten ins Lager Sobibor deportiert worden waren. Er hat hierdurch in 16 Fällen rechtswidrige und nicht entschuldigte Beihilfe zum Mord begangen. Die Schwurgerichtskammer ist für die Aburteilung örtlich und sachlich zuständig; es besteht kein Verfolgungshindernis, namentlich nicht durch die in Israel und in Polen gegen den Angeklagten geführten Verfahren.

 

B. Feststellungen

 

I. Jugend des Angeklagten

 

Der nunmehr 91-jährige Angeklagte wurde am 3.April 1920 in Dubowije Machrinzij, einem Dorf im ukrainischen Bezirk Kasatyn geboren. Er besuchte die Schule und war sodann im Rahmen eines landwirtschaftlichen Betriebs als Traktorfahrer tätig.

 

Am 15.September 1940 wurde er zur sowjetischen Armee einberufen. Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22.Juni 1941 kämpfte er drei Monate an verschiedenen Orten. Er wurde am Rücken, möglicherweise durch einen Granatsplitter verwundet und verbrachte die folgenden Monate in verschiedenen Lazaretten.

 

Im Mai 1942 war er einer Einheit der Roten Armee zugeteilt, die den Versuch unternahm, die Halbinsel Krim zurückzuerobern. Er geriet dabei auf der Halbinsel Kertsch mit Tausenden anderer sowjetischer Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Über Durchgangslager kam er ins Lager Rowno, möglicherweise von dort in das Lager Chelm. Entweder schon im Lager Rowno oder im Lager Chelm wurde er für das Ausbildungslager Trawniki rekrutiert.

 

Von dort führte ihn der Weg ins Vernichtungslager Sobibor.

 

II. "Endlösung der Judenfrage" und Vernichtungslager

 

Das Lager Sobibor war neben den Lagern in Treblinka und Belzec eines der drei Vernichtungslager, die von den Nazis im Zug der sog. "Aktion Reinhardt" 91 als Teil der sog. "Endlösung der Judenfrage", das heisst der Ermordung der europäischen Juden auf polnischem Gebiet errichtet wurden.

 

1. Judenpolitik des Dritten Reiches allgemein

 

Schon kurz nach der sog. Machtergreifung am 30.Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten mit der Verdrängung der Juden aus allen öffentlichen Bereichen, mit der Boykottierung

 

90Im Urteil fehlende Überschriften sind der dem Urteil beiliegenden Gliederung entnommen worden.

91 Auch "Aktion Reinhard".