Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

 

Lfd.Nr.013a LG Kiel 03.01.1947 JuNSV Bd.I S.209

 

Lfd.Nr.013a    LG Kiel    03.01.1947    JuNSV Bd.I S.212

 

solle schiessen oder ihm das Gewehr geben, wenn er zu feige sei. Darauf drückte Hay ab und traf Roos in den Kopf. Der Angeklagte meinte darauf: "Schmeisst das Schwein über Bord". Alle drei Angeklagte warfen gemeinsam den Körper des Roos über die Reeling. Als der Körper noch einmal auftauchte, gab F. von sich aus einen weiteren Schuss auf Roos ab. Der Körper versank darauf im Wasser. Der Leichnam wurde später an Land geschwemmt und beigesetzt.

 

Der Angeklagte begab sich sofort zu Kapitän H. und meldete ihm, er habe soeben den leitenden Ingenieur Roos erschossen, da er ein Verräter sei und den Führer beleidigt habe. Später hielt er eine Ansprache an die Flakbesatzung, in der er den Vorfall bekanntgab und zum Ausdruck brachte, dass er die volle Verantwortung übernehme. Kapitän H. veranlasste, dass die Beteiligten sofort von Bord kamen. Infolge der militärischen Ereignisse kam es zunächst nur zu einer kurzen Vernehmung des Angeklagten, der mit seiner Einheit in das Sperrgebiet verlegt wurde und dort Ende Juni 1945 verhaftet wurde.

 

Der Angeklagte beruft sich zur Rechtfertigung seiner Tat auf den Führerbefehl. Da Roos auf seine Untergebenen zersetzend einzuwirken versucht habe, habe er sich zu seiner Handlungsweise für verpflichtet gehalten, zumal seit etwa einer Woche 15 Neue Leute seiner Einheit angehört hätten, deren er sich nicht ganz sicher gefühlt hätte. In den damaligen kritischen Tagen vor dem Zusammenbruch habe eine gewisse Sabotagepsychose geherrscht. Aus Hass und Rache für den Vorwurf der Feigheit, den ihm Roos gemacht habe, glaube er nicht gehandelt zu haben. Seine geistige Verfassung unmittelbar vor der Tat bezeichnet er dahin, er habe sich nicht mehr gekannt und nicht gewusst, was er getan habe. Er habe damals nicht einmal gewusst, ob er oder einer seiner Kameraden den tödlichen Schuss abgegeben habe. Nicht einmal über die Person von Hay. und F. sei er sich klar gewesen.

 

Was den Führerbefehl angeht, so handelt es sich nach der Bekundung des Zeugen R. um einen allgemeinen Befehl Adolf Hitlers, der im April 1945 an alle Einheiten ergangen und von Dr. Göbbels auch in seiner Rede am 20.April erwähnt worden ist. Danach sollte jeder Soldat, gleich ob Offizier oder Mann, befugt sein, sofort mit der Waffe jeden unschädlich zu machen, der seinen Kampfplatz feige verlässt oder seine Kameraden zur Aufgabe des Kampfes auffordert oder in sonstigen Kampflagen feige, zersetzend oder verräterisch handelt. Der Zeuge R. hat diesen Befehl seinen Flakeinsatzleitern, darunter auch dem Angeklagten vorgelesen und sie auf die grosse Verantwortung hingewiesen, die ihnen mit diesem Befehl auferlegt worden sei.

 

Die Tat des Angeklagten stellt sich nach der äusseren Tatseite als die gemeinschaftliche Tötung eines Menschen dar. Ob Mord vorliegt, hängt davon ab, ob die Tat unter Umständen geschehen ist, die in §211 StGB als besonders verwerflich angesehen werden, ob der Angeklagte insbesondere aus niedrigen Beweggründen hat. In dieser Hinsicht hat das Gericht folgendes festgestellt:

 

Der Angeklagte ist ein mässig intelligenter, nicht sehr selbständig denkender, aber ausgesprochen pflichttreuer Mensch. Er hat sich frühzeitig für nationale und militärische Ideen begeistert und war ein ehrgeiziger Soldat. Bei seiner Neigung zur Unterordnung und bei seinem starken Autoritätsglauben hat er sich der Person Adolf Hitlers und seiner Bewegung ergeben. Dabei hat seine Urteilsfähigkeit mit der Zeit eine erhebliche Einengung erfahren. Gerade ihn mussten daher die letzten Ereignisse schwer erschüttern. Von seinem Glauben an den Sieg fand er keine Umstellung zu einer kritischeren Betrachtung. So schwankte er schliesslich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Der Brief seiner Frau, mit deren Tod er rechnete, der Tod Adolf Hitlers, der ihn nach seinen Angaben schwer erschüttert hatte, weiter die Ereignisse mit den aus Gotenhafen evakuierten Flüchtlingen 53 hatten bei ihm eine starke Erregung hervorgerufen. In diesem Zustand traf er mit Roos zusammen, dessen abfällige Äusserungen über alles das, wofür er bisher gekämpft hatte, ihn aufs Äusserste erbittern und reizen mussten. Als Roos ihm daher bei einem erneuten Zusammentreffen den ihn tief treffenden Vorwurf der Feigheit machte, liess er sich in einem

 

53 Es handelt sich um - weder hier, noch im aufgehobenen Urteil vom 12.12.1945 näher ausgeführte - Erlebnisse, die W. bei einem in den letzten Apriltagen erfolgten Transport von Flüchtlingen aus Gdingen / Gdynia ('Gotenhafen') nach Kiel gehabt hatte.