Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.012a LG Lübeck 23.12.1946 JuNSV Bd.I S.189

 

Lfd.Nr.012a    LG Lübeck    23.12.1946    JuNSV Bd.I S.194

 

Dem Angeklagten stand daher ein Notwehrrecht gemäss §53 StGB nicht zur Seite.

 

Der Angeklagte kann sich zur Entschuldigung bzw. Rechtfertigung seines Verhaltens auch nicht auf die §§52, 54 StGB oder auf übergesetzlichen Notstand berufen. Die Möglichkeit, das Handeln eines Menschen mit dem Vorliegen eines Notstandes zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, findet ganz allgemein dort ihre Grenze wo es Jemandem durch Rechtspflicht auferlegt ist, eine Leibes- oder Lebensgefahr zu erdulden. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn jemand durch ein 48 formell rechtskräftiges Urteil und zumal wegen eines bei allen Kulturstaaten für strafwürdig erklärten Deliktes wie Fahnenflucht verurteilt ist und wie der Angeklagte deshalb von einem Organ der Obrigkeit festgehalten wird. Wollte man den Verurteilten gestatten, zur eigenen Rettung gegen den staatlichen Zwang Widerstand zu leisten, so würde das die Auflösung jeglicher staatlichen Ordnung bedeuten. Dem könnte nicht dadurch begegnet werden, dass das Recht zum Widerstand auf die Fälle beschränkt würde, wo die staatliche Ordnung wie die des Hitlerregimes nicht von Dauer ist und nachher allgemein als verbrecherisch erkannt wird, weil weder der untergeordnete Staatsdiener noch der Verurteilte die Dauer und die spätere Beurteilung der jeweiligen Staatsgewalt übersehen kann. Deshalb hat bei Massnahmen, die der Staat dem Einzelnen vermöge seiner Strafgewalt zuzufügen berechtigt ist, die Möglichkeit einer Berufung auf den Notstand schon von vornherein auszuscheiden, da der Einzelne das ihm vom Staat zugefügte Übel auf sich zu nehmen, rechtlich verpflichtet ist.

 

Der Angeklagte konnte daher seine Handlungsweise nicht mit dem Vorliegen eines Nötigungszustandes gemäss §52 StGB entschuldigen, da er rechtlich verpflichtet war, die Festnahme zu dulden. Aus den gleichen Gründen entfiel für den Angeklagten auch die Möglichkeit, sich auf §54 StGB oder auf übergesetzlichen Notstand zu berufen.

 

§54 StGB konnte darüber hinaus auch schon deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil die Zwangslage, in der sich der Angeklagte befand, nicht unverschuldet war. Im gegebenen Falle musste sich der Angeklagte nach seiner Flucht aus der Haftanstalt in Stralsund sagen, dass er in Deutschland jederzeit festgenommen werden konnte und in eine derartige Lage kam, wie sie dann tatsächlich für ihn in Lübeck eingetreten ist. Er konnte und musste die Notstandslage also voraussehen. Sie ist danach von ihm schuldhaft verursacht, sodass auch schon aus diesem Grunde, abgesehen von dem Obengesagten, die Anwendung des §54 StGB nicht in Betracht kam. Die Anerkennung eines übergesetzlichen Notstandes des Angeklagten muss abgesehen von dem Obengesagten auch daran scheitern, dass der übergesetzliche Notstand, der dann vorliegt, wenn zwei rechtlich geschützte Güter in Widerstreit geraten und das eine nur auf Kosten des anderen erhalten werden kann, und der in diesem Fall gestattet, das höherwertige Rechtsgut auf Kosten des geringerwertigen zu wahren, stets ein pflichtmässiges Abwägen der im Widerstreit stehenden Rechtsgüter voraussetzt. Ein solches Abwägen ergibt im gegebenen Fall, dass hier zwei Menschenleben auf dem Spiel standen, von denen ein objektiver Beobachter nicht sagen konnte, dass das eine höherwertiger als das andere war. Damit entfällt für den Angeklagten auch schon deshalb die Möglichkeit, sich auf das Vorliegen eines übergesetzlichen Notstandes zu berufen. Der Angeklagte ist danach des versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung schuldig und nach §§212, 43, 224, 73 StGB zu bestrafen. Die Strafe ist den Vorschriften über die vorsätzliche Tötung §212 ff StGB als den die schwerere Strafe androhenden Bestimmungen zu entnehmen.

 

III.

 

Bei der Strafzumessung hat die Strafkammer dem Angeklagten zugutegehalten, dass er unwiderlegt nicht aus niedrigen sondern aus menschlich verständlichen Beweggründen gehandelt hat. Dies und der Umstand, dass das Verhalten des Angeklagten unwiderlegt durch seine ehrenhafte gegnerische politische Überzeugung bestimmt war, sind als mildernde Umstände sowohl hinsichtlich des Totschlagsversuchs als auch der schweren Körperverletzung nach §228 StGB zu werten. Auf der anderen Seite war zu berücksichtigen, dass der Angeklagte durch seine Handlungsweise einem anderen, am

 

48 i.d.V.: jemand ein.