Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.012a LG Lübeck 23.12.1946 JuNSV Bd.I S.189

 

Lfd.Nr.012a    LG Lübeck    23.12.1946    JuNSV Bd.I S.193

 

II.

 

Dem Angeklagten ist zu glauben, dass er nicht darauf ausgegangen ist, den P. zu töten. Er hat aber den Umständen nach mit bedingtem Tötungsversuch gehandelt. Der von ihm mit dem Anschlagen auf den Kopf des Polizeibeamten verfolgte Zweck, dem Beamten eine Verhinderung seiner Flucht und eine alsbaldige Verfolgung des Flüchtigen unmöglich zu machen, liess sich nur erreichen, wenn er ihn so schwer am Schädel verletzte, dass der Beamte bewusstlos wurde. Der Angeklagte ist seinem Auftreten in der Hauptverhandlung nach ein intelligenter, klar und nüchtern denkender Mensch, der viel von der Welt gesehen hat. Er wusste wie jeder vernünftige Erwachsene, dass ein so nachhaltiger Schlag mit einem solchen eisernen Feuerhaken auf einen unbedeckten Kopf den Schädelknochen zertrümmern würde und die Kopfverletzung wie solche Schäden oft zum Tode des Geschlagenen führen konnte. Die Möglichkeit eines solchen Ausgangs war dem Angeklagten umsomehr klar, als zu der Zeit nur wenige Beamte, die nachts Dienst hatten, in dem grossen Gebäude waren und der Angeklagte deshalb damit rechnete, dass der Verletzte vielleicht erst nach Stunden aufgefunden und ärztlich behandelt werden könnte; dass die Tat wirklich spät entdeckt würde, konnte dem Angeklagten den Umständen nach nur erwünscht sein, und er hat diesen Wunsch im Interesse des Gelingens seiner Flucht nach der Überzeugung des Gerichts auch gehabt. Diese naheliegende Möglichkeit, dass P. infolge des Schlages starb, hat der Angeklagte bei seinem Handeln bewusst in Kauf genommen, um auf jeden Fall sein eigenes Leben zu retten. P. ist dann durch das erfolgreiche Bemühen der Ärzte am Leben geblieben. Der vom Angeklagten als möglicherweise eintretend vorgestellte und gebilligte Erfolg, die Tötung ist also nicht eingetreten, die Tat also nur bis zum Versuch gediehen. Der Angeklagte hat damit, wenn ihm nicht, was noch zu prüfen ist, ein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund zur Seite steht, den Tatbestand der §§212, 43 StGB erfüllt; §211 StGB kommt nicht in Betracht, weil einer seiner Fälle der besonders verwerflichen vorsätzlichen Tötung bzw. des Versuchs einer solchen, den Umständen nach nicht vorliegt. Durch die gleiche Tat hat der Angeklagte den Zeugen P. mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich so verletzt, dass P. im Sinne von §224 StGB in Siechtum verfallen ist. Nach den überzeugenden Ausführungen der beiden ärztlichen Sachverständigen hat P. durch den Schlag schwere organische Schädigungen davongetragen, die sich nicht mehr beheben lassen, und ist für dauernd in seinem Beruf und auch sonst arbeitsunfähig geworden. Sein Allgemeinbefinden ist seit der Verletzung durch mangelndes Denkvermögen und Schwäche und Unsicherheit in den Gliedmassen, was in dem unsicheren Gang und der Haltung des Zeugen in der Hauptverhandlung deutlich wurde, auf die Dauer erheblich gestört.

 

Das Handeln des Angeklagten ist weder durch Notwehr oder "übergesetzlichen Notstand" zu rechtfertigen, noch durch Nötigung oder Notstand im Sinne von §§52, 54 StGB zu entschuldigen. Dass P. ihn geschlagen oder irgendwie angegriffen hätte, behauptet der Angeklagte selbst nicht, und ist auch nicht hervorgetreten. Die angebliche Misshandlung durch einen anderen Beamten, der schon eine ganze Weile vor der Tat des Angeklagten das Zimmer endgültig verlassen hatte, wäre auch abgesehen davon, dass ein anderer als P. der Angreifer gewesen wäre, auch kein gegenwärtiger Angriff mehr gewesen; nach der glaubhaften und vom Angeklagten nicht beanstandeten Angabe des P. in der Hauptverhandlung waren seit dem Fortgang der Beamten L. und W. wenigstens 30 Minuten vergangen, in denen sich P. in aller Ruhe mit der Durchsicht der Papiere des Angeklagten beschäftigt hatte. Der Angeklagte ist auch überhaupt nicht geschlagen worden; eine "eigentliche Misshandlung" soll es ja, wie er in der Hauptverhandlung erklärte, auch gar nicht gewesen sein. Es erscheint schon wenig glaubhaft, dass der Angeklagte sich einerseits so verhältnismässig unbedeutender Berührungen entsinnt, die ihn selbst ihre Geringfügigkeit betonen lassen, und auch den Standort von Tisch, Ofen und anderen Geräten noch genau angibt, andererseits aber unter den beiden ihm in der Hauptverhandlung vorgestellten, als Täter allein in Frage kommenden, beiden Kriminalbeamten L. und W. den Täter nicht will angeben können, wenn seine Angaben über die Schläge richtig sind. P., L., W. und der als uniformierter Polizist damals anwesende Gr. haben auch als Zeugen übereinstimmend auf das Bestimmteste erklärt, dass der Angeklagte nicht geschlagen worden sei; sie haben das auch beschworen.