Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.012a LG Lübeck 23.12.1946 JuNSV Bd.I S.189

 

Lfd.Nr.012a    LG Lübeck    23.12.1946    JuNSV Bd.I S.192

 

Nervenarzt Dr. v. R. verlegt. Nach weiteren 6 Wochen kam er in das Krankenhaus Süd, aus dem er im Juni 1944 entlassen wurde. Nach den übereinstimmenden gutachtlichen Äusserungen der beiden ärztlichen Sachverständigen Dr. v. R. und Dr.med. F. hat der Zeuge P. durch den Schlag folgende Verletzungen erlitten:

 

1. Zertrümmerungsbruch an der linken Schädelseite mit einem Knochendefekt von etwa 5 cm Länge und bis zu 2 cm Breite, ferner mit Hirnverletzung und Hirnsubstanzverlust durch ein etwa 4 cm in die Hirnmasse eingetriebenes 5-Markstück grosses Knochenstück mit nachfolgenden Ausfalls- und Lähmungserscheinungen im rechten Arm und in der rechten Hand,

2. tiefe stichartige Verletzungen in der linken Nackenseite mit Verletzung von Nervenfasern, die den linken Arm und die linke Hand versorgen.

 

P. war nach der Entlassung aus dem Krankenhaus arbeitsunfähig und wurde im September 1944 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Er ist danach noch bis Ende Oktober 1945 wegen der Hirnverletzung bei Dr. v. R. in Behandlung gewesen. Noch heute leidet er unter den Folgen der Verletzung und klagt darüber, dass er keine Kräfte in den Armen und den Beinen besitze und nicht mehr richtig gehen und denken könne. Die beiden Sachverständigen haben in ihrem Gutachten überzeugend dargetan, dass die Angaben des P. richtig seien und es sich bei den jetzt noch vorhandenen Schädigungen des Zeugen um Dauerschädigungen handele, die nicht mehr behoben werden könnten. Es sei auch bei dem Alter des Zeugen P. nicht mehr damit zu rechnen, dass seine Arbeitsfähigkeit jemals wieder hergestellt werden könne.

 

Der Angeklagte schildert sein Schicksal nach der Flucht aus dem Polizeipräsidium in Lübeck, unwiderlegt so: Zunächst begab er sich nach Bad Kleinen in ein Fremdarbeiterlager und erhielt dort durch einen tschechischen Major falsche Papiere auf den Namen Meyer. Mit diesen Papieren gelang es ihm, unbehelligt durch Deutschland bis zur Schweizer Grenze zu reisen. Da die Grenze vom deutschen Sicherheitsdienst scharf bewacht wurde, schwamm er nach einigen missglückten Übergangsversuchen am 17.Februar 1944 durch den Rhein, meldete sich in Zürich und reichte dort ein Gesuch um Gewährung von Asyl ein, das ihm bei gleichzeitiger Internierung bewilligt wurde. Er widmete sich in der Schweiz journalistischen und soziologischen Studien und war auch vorübergehend Führer einer 300 Mann starken Partisanenbrigade, die in Italien zum Kampf gegen SS-Einheiten eingesetzt wurde. Als im Frühjahr 1946 erstmalig die Möglichkeit bestand, nach Deutschland in die britische Zone zurückzukehren, nahm er die Gelegenheit sofort wahr, obwohl man ihm angeboten hatte, dauernd in der Schweiz zu bleiben, und kam am 21.Mai 1946 in Hamburg an, um dort, wie er sagt, den Kampf für ein demokratisches Deutschland aufzunehmen. Er wurde zunächst zweiter Schriftleiter beim Pressehauptquartier der Britischen Militärregierung in Hamburg, Prüfstelle für die deutsche Presse. Als diese Dienststelle im Oktober 1946 nach Berlin verlegt wurde, schied er bei ihr aus. Seitdem betätigt er sich in Hamburg als freier Mitarbeiter der deutschen Presse.

 

Der des Totschlagsversuchs an dem Kriminalsekretär P. beschuldigte Angeklagte gibt danach zwar zu, den P. mit dem Feuerhaken niedergeschlagen und so verletzt zu haben. Er macht zu seiner Entschuldigung geltend, dass es die einzige Möglichkeit für ihn gewesen sei, sein Leben zu retten, und dass er daher in einem auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstand gehandelt habe. Er will angenommen haben, sich auf einer Dienststelle der Gestapo zu befinden und deshalb mit dem Schlimmsten gerechnet haben. Auch sei er, so behauptet er, von einem der anderen beiden nichtuniformierten Beamten im Polizeipräsidium ein- oder zweimal mit der Hand ins Gesicht geschlagen und gegen den Ofen gestossen worden, wodurch er eine Verletzung im Rücken in Rippenhöhe davongetragen habe, die bei seinem Grenzübertritt in die Schweiz noch als blutunterlaufene Stelle sichtbar gewesen sei. Er habe im übrigen nicht die Absicht gehabt, P. zu töten. Ihm sei nur daran gelegen gewesen, den Beamten eine Zeitlang auszuschalten, um fliehen zu können. Er bedauere, dass P. so schwere Verletzungen erlitten habe, und wolle ihn auch in Rahmen des Möglichen entschädigen.