Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.18

 

Warthemündung, also nordwestlich Küstrin, die Oder und bildeten dort in den Vormittagsstunden bei Kienitz bereits einen wichtigen Brückenkopf über den Fluss. Nach der Tagesmeldung des OKH vom 31.1.1945 ging die "Festung" Landsberg an der Warthe verloren. Schon vorher waren hiernach sowjetische Panzer von Osten und Norden vorübergehend in Küstrin eingedrungen. Im Oder-Warthe-Bogen stiess der am 30.1. in den Raum Zielenzig durchgebrochene Feind am 31.1. nicht weiter nach Westen vor. Südlich und nördlich des Truppenübungsplatzes Wandern machte der russische Vormarsch jedoch Fortschritte. In den Tagen vom 1.-3.Februar 1945 konnten die Sowjets über Reppen auf Kunersdorf bei Frankfurt/Oder vorrücken und nördlich davon ebenfalls schon einen kleinen Brückenkopf über den Fluss bilden. In einer Tagesmeldung vom 2.Februar 1945 heisst es: "Feindangriffe von Südwesten und Westen auf Sonnenburg führten zur Einschliessung der Besatzung". Eine weitere Meldung vom 3.2.1945 lautet: "Die eigenen Linien wurden bei Küstrin im Süden, Osten und Norden auf den Stadtrand zurückgedrückt". Das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht vermerkt unter dem 2.2.1945: "Der Feind stösst nordostwärts Frankfurt/Oder vor bis Bischofssee. Sonnenburg ging verloren" ... In den Meldungen des Oberkommandos des Heeres wird das weitere militärische Schicksal Sonnenburgs nicht vermerkt.

 

Aus Zeugenaussagen ist festzustellen, dass sowjetische Panzerspitzen bereits etwa am 2.2.1945 Sonnenburg erreicht, aber den Ort nicht besetzt haben. Am 3. oder 4.Februar 1945 konnte der Zeuge Stä., damals Ortsgruppenleiter in Sonnenburg, sich noch unbehelligt nach Westen absetzen. Die Zeugin Nol. hatte Sonnenburg am 1.2.1945 verlassen und stellte am nächsten Morgen in Küstrin / Alt Drewitz sowjetische Panzerspitzen fest. Die überlebenden Gefangenen des Zuchthauses Sonnenburg, die Zeugen Lec., Sav. und Ess. bemessen die Zeitspanne zwischen der Erschiessung ihrer Mitgefangenen und dem Eintreffen der russischen Armee mit 2-4 Tagen. Bei dieser ungenauen zeitlichen Einordnung ist zu berücksichtigen, dass diese Zeugen infolge ihrer damaligen Lage zeitlich nur schlecht orientiert waren.

 

2.3 Räumungen von Justizvollzugsanstalten in feindbedrohten Gebieten und Richtlinien hierzu

 

Das Zuchthaus in Sonnenburg war nicht die erste Anstalt, die bei Feindannäherung geräumt wurde. Zahlreiche Anstalten in den Gebieten Ostpreussens, Westpreussens, Pommerns und Schlesiens, die dem Zugriff der roten Armee schon zu einem früheren Zeitpunkt offengestanden haben, wurden geräumt. Diese Räumungsmassnahmen erfolgten zeitlich sowohl vor der Räumung Sonnenburg als auch danach.

 

Im Reichsjustizministerium wurden "Richtlinien für die Räumung von Justizvollzugsanstalten im Rahmen der Freimachung bedrohter Reichsgebiete" entwickelt. Über die Herkunft dieser Urkunde und deren Verfasser geht aus der Urkunde selbst nichts hervor. Die Urkunde trägt weder ein Datum noch eine Unterschrift. Diese Richtlinien sind nachweislich unter dem 5.Februar 1945 an den Generalstaatsanwalt in Linz übersandt worden. Das hierzu benutzte Anschreiben V s 2 100/45 g ist durch den Abteilungsleiter der Abteilung V E. unterzeichnet worden. In diesem Anschreiben heisst es:

"Im Hinblick auf die Frontnähe habe ich vorsorglich den Generalstaatsanwalt in Graz angewiesen, die für eine etwa erforderliche Freimachung der Vollzugsanstalten seines Bezirks notwendigen Vorbereitungen zu treffen, und Ihren Bezirk zum Aufnahmebezirk bestimmt. Ich bitte Sie, die zur Vorbereitung der etwa erforderlich werdenden Aufnahme notwendigen Massnahmen zu treffen, sich mit dem Generalstaatsanwalt in Graz wegen der Regelung der sie gemeinsam berührenden Fragen in Verbindung zu setzen und mit ihm die erforderlichen Unterlagen auszutauschen. Im einzelnen verweise ich auf die beigeschlossenen Richtlinien".