Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.16

 

Diese Beweisschwierigkeiten musste das Schwurgericht ständig im Auge behalten und danach die Glaubwürdigkeit jedes einzelnen Zeugen prüfen. Hiernach konnte ein eindeutiger Sachverhalt nicht in allen wesentlichen Punkten mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden. Viele Fragen mussten offen bleiben. Auch die Einlassungen der Angeklagten konnten in solchen Fällen nicht einfach unterstellt werden, weil sie nicht in allen Punkten glaubwürdig genug waren und durch andere Tatsachen nicht gestützt wurden oder ihnen widersprachen.

 

2. Feststellungen zur Zeitgeschichte und zur Vorgeschichte

 

2.1 Gliederung und personelle Besetzung im Justizbereich und im Reichssicherheitshauptamt

 

Als Täter, welche die Tötungen in Sonnenburg angeordnet haben, kommen Personen aus dem Justizbereich sowie aus den vorgesetzten Dienststellen der Angeklagten in Betracht. Über diesen Bereich konnte folgendes festgestellt werden:

 

Reichsjustizminister war seit 1942 der frühere Präsident des Volksgerichtshofes Thierack. Der Vertreter des Reichsministers war der Staatssekretär Klemm, der 1944 aus dem Stab des Stellvertreters des Führers - später Parteikanzlei - in München ins Ministerium kam. Klemm galt als persönlicher Vertrauensmann des Ministers Thierack. Die in diesem Zusammenhang interessierenden Abteilungen des Reichsjustizministeriums trugen die Ziffern IV, V und XV. Abteilung IV betraf das Strafrecht mit Strafvollstreckung und Abteilung V den Strafvollzug, während Abteilung XV mit der Abgabeaktion von Häftlingen an das Reichssicherheitshauptamt (Konzentrationslager) befasst war. Der verstorbene Ministerialdirektor Karl E. 8 war ab November 1942 Leiter der Abteilung XV und ab Mitte 1943 übernahm er statt des Ministerialdirigenten Ma. 9 die Leitung der Abteilung V. E. war seit 1935 oder 1936 Vertreter des Präsidenten des Volksgerichtshofes und führte den 2.Senat. Thierack hatte ihn von seiner früheren Tätigkeit mit ins Ministerium gebracht. Einer der Referenten der Abteilung V war der vernommene Zeuge Dr. Egg., damals Ministerialrat. Er leitete das der Abteilung V unterstehende Zentralbeschaffungsamt, welches die gesamte Materialbeschaffung für die Vollzugsanstalten besorgte. Ein weiterer Referent dieser Abteilung V war der inzwischen gestorbene Senatspräsident Hec. Er war für die Anstaltsräumungen bei Feindbedrohung zuständig.

 

Der damals für den Strafvollzug im Tatgebiet zuständige Staatsanwalt war der Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht Hanssen. Hanssen war bis 1943 im Stabe des Stellvertreters des Führers und ab 1944 Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht in Berlin. Er hatte den Dienstrang eines SS-Sturmbannführers. Hanssen war über 5 Jahre persönlicher Referent des Reichsleiters Bormann gewesen und wegen dieser Tätigkeit mit manchem Gauleiter gut bekannt geworden. Generalstaatsanwalt Hanssen wohnte etwa bis zur Tatzeit mit seiner Familie in einem Teil der Dienstwohnung im Zuchthaus Sonnenburg, nachdem seine Dienstwohnung in Berlin ausgebombt worden war. Der Leiter des Zuchthauses bewohnte das Erdgeschoss, während Hanssen den ersten Stock des zum Zuchthaus Sonnenburg gehörenden Wohngebäudes bewohnte. Hanssen soll bei Einnahme Berlins durch sowjetische Truppen den Tod gefunden haben. Über sein Verbleiben ist nichts Gewisses bekannt geworden.

 

Nach einer Anordnung vom Sommer 1943 mussten die Spitzenbehörden des Reiches wegen der unmittelbaren Kriegseinwirkungen durch Bomben aus Berlin evakuiert werden. Auch die

 

8 Zu E. siehe auch Verfahren Lfd.Nr.310, in dem E. mitangeklagt war, im Laufe dieses Verfahrens aber verstarb.

9 Siehe Lfd.Nr.310.