Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.15

 

1.3 Allgemeine Bemerkungen zur Tatsachenfeststellung

 

Objektive, verlässliche Beweismittel, die ein lückenloses Bild vom Tatgeschehen vermitteln konnten, standen nach Ablauf von etwa 26 Jahren seit der Tat kaum zur Verfügung. Urkunden und Dokumente, welche den Vorwurf direkt betrafen, waren nur in geringer Zahl vorhanden. Sie allein waren nicht geeignet, ein hinreichendes Bild des Tatgeschehens zu geben. Insbesondere fehlte der schriftliche Tötungsbefehl, der über die Angeklagten die Tötungen in Sonnenburg ausgelöst hat, und viele schriftliche Unterlagen aus dem Reichsjustizministerium sowie alle Unterlagen des Generalstaatsanwalts, der Gestapostelle Frankfurt/Oder und des Zuchthauses in Sonnenburg über den Verfahrensgegenstand. Hierdurch wurden dem Schwurgericht die Feststellungen über die Urheber, über den Umfang des Befehls und die Motivation der Beteiligten erschwert.

 

Die Angeklagten selbst haben in der Schuldfrage zur Aufklärung wenig beigetragen. In ihren Einlassungen schwächen sie ihre Mitwirkung ab. Ausserdem widersprechen die Einlassungen eines jeden Angeklagten in wesentlichen Punkten denen des anderen, ohne dass stets sicher festzustellen ist welche Einlassung der Wahrheit näher steht.

 

Schliesslich bleibt zur Aufklärung das schon nach allgemeiner Erfahrung unsichere Beweismittel des Zeugenbeweises übrig. Es standen überwiegend nur Zeugen im vorgeschrittenen Alter zur Verfügung. Alle Zeugen mussten über Vorfälle aussagen, die bereits 26 Jahre zurückliegen. Ihre Wahrnehmungen bezogen sich zumeist auf die Tatausführung; über Tatsachen der Willensbildung auf der Befehlsebene wussten sie nichts. Es war bei einigen Zeugen nicht auszuschliessen, dass sie selbst in das Geschehen verstrickt waren. Dieses Bedenken galt insbesondere bei Beamten der Stapostelle Frankfurt/Oder, aber auch bei den vernommenen Zuchthausbeamten. Vielfach war eine zurückhaltende Aussagebereitschaft festzustellen. Andere Zeugen machten den Eindruck, als wüssten sie tatsächlich nur noch sehr wenig über die weit zurückliegenden Dinge. Es war dem Schwurgericht nach Ablauf der langen Zeit seit dem Tatgeschehen nicht in jedem Fall möglich, mit hinreichender Sicherheit festzustellen, ob ein Zeuge, der nur lückenhaft oder unsicher aussagte, dies tat, weil er manches vergessen oder aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte, weil er die Angeklagten oder andere schützen wollte oder weil er selbst an der Sache beteiligt war. Bei sicher auftretenden Zeugen war insbesondere zu berücksichtigen, dass sie möglicherweise bewusst oder unbewusst vorhandene Erinnerungslücken auffüllten. Im übrigen war dies bei keiner Aussage mit Sicherheit auszuschliessen. Bei diesen besonderen Gegebenheiten kam der Frage, ob ein Zeuge unter Eid oder uneidlich ausgesagt hat, für die Tatsachenfeststellung keine ausschlaggebende Bedeutung zu, sofern nicht im Folgenden anderes vermerkt ist.

 

Die Zeugenaussagen sind daher durch das Schwurgericht mit besonderer Vorsicht gewürdigt worden und waren einzeln gesehen für die Wahrheitsfindung wenig ergiebig. Aber auch insgesamt gesehen konnten sie nur ein lückenhaftes und zudem noch unsicheres Bild des Tatgeschehens vermitteln. Dem Schwurgericht stand kaum die Möglichkeit offen, die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen durch Vernehmung anderer Zeugen zu überprüfen, welche die gleichen Vorgänge beobachtet haben müssen. Durch den Zeitablauf waren inzwischen zu viele Zeugen verstorben.

 

Für den Hergang der Tötung fehlte es an Zeugen aus dem Erschiessungskommando. Die Mitglieder dieses Kommandos haben sich überhaupt nicht mehr ermitteln lassen. Auch die Möglichkeit von Absprachen zwischen Zeugen und Angeklagten war zu berücksichtigen. Schliesslich konnten Verbindungen während der Ermittlungen zwischen einigen Zeugen und Angeklagten festgestellt werden. Für solche Kontaktaufnahmen bestand innerhalb von 26 Jahren nach der Tat in erhöhtem Masse Gelegenheit. Nach der Feststellung solcher Verbindungen haben die Aussagen dieser Zeugen an Wert verloren und müssen besonders vorsichtig gewertet werden.