Justiz und NS-Verbrechen Bd.XVIII

Verfahren Nr.523 - 546 (1961 - 1963)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.526a LG Karlsruhe 20.12.1961 JuNSV Bd.XVIII S.69

 

Lfd.Nr.526a    LG Karlsruhe    20.12.1961    JuNSV Bd.XVIII S.115

 

Als an einem nicht mehr feststellbaren Tage im Sommer 1943 von einer Aussenarbeitsstelle des Gutes ein Posten mit 5 oder 6 Häftlingen geflohen war, hatte Ka. das mittags befehlsgemäss der Dienststelle nach Kiew gemeldet. Daraufhin kündigte der Angeklagte E. sein Kommen noch für den Abend desselben Tages an und befahl, zu diesem Zeitpunkt alle Häftlinge antreten zu lassen. Das geschah auch. Als E. angekommen war, liess er durch einen Dolmetscher den Häftlingen den Grund seines Kommens, dass nämlich für die Geflohenen mehrere von ihnen erschossen werden würden, eröffnen. Nachdem er auf Ka.s Wunsch dessen 10-15 beste Arbeiter hatte abtreten lassen, liess er von dem Rest durch Abzählen jeden 5. oder 6., insgesamt wenigstens 5 Mann, heraustreten. Diese wurden sodann unweit und unterhalb des Platzes, wo alle angetreten waren, an einem Waldrand von der Wachmannschaft in Abwesenheit E.s durch Genickschuss erschossen.

Auch an dieses Geschehen will sich der Angeklagte E. nicht mehr erinnern können.

 

2. Möglicher Straftatbestand

 

Dieser Sachverhalt wäre - wenn der Strafverfolgung nicht das Prozesshindernis der Verjährung entgegenstehen würde - unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Totschlages nach §212 StGB, nicht aber unter dem des Mordes nach §211 StGB zu würdigen, wobei die Frage nach Täterschaft oder einer Teilnahmeform hier unentschieden bleiben kann. Das hier festgestellte Verhalten E.s erfüllt keinen der in §211 Abs.2 StGB aufgeführten besonderen Tatumstände, die ihn als Mörder qualifizieren würden. So hat die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung in Abweichung von Anklage und Eröffnungsbeschluss auch nur noch die Verurteilung wegen Totschlags nach §212 StGB beantragt.

Der Sachverhalt könnte allenfalls zur Prüfung des Tatbestandsmerkmales des "niedrigen Beweggrundes", nicht aber von "heimtückisch" oder "grausam" Anlass geben. Dass für die letztgenannten Ausführungsarten keine Anhaltspunkte vorliegen, liegt offen.

Aber auch niedrige Beweggründe sind nicht zu erkennen.

Triebfeder seines Handelns war hier nicht eine besonders gemeine und daher verächtliche und verdammungswürdige Gesinnung. Die Tötung sollte vielmehr der Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung dienen und grobe Verstösse dagegen - die Flucht anderer - verhindern. Sie sollte dadurch mittelbar auch einer Schwächung der Kampfkraft der feindlichen Partisanen dienen. Denn es lag die Vermutung nahe, dass die geflüchteten Häftlinge sich dem Partisanenkampf, der ständig grösseren und gefährlicheren Umfang annahm, auf der Gegenseite zur Verfügung stellten. Darum würde vorliegend nur ein Verbrechen des Totschlags nach §212 StGB in Frage stehen.

 

3. Verjährung

 

Hinsichtlich dieses Verbrechens, das im Sommer 1943 begangen ist, ist aber die Strafverfolgungsverjährung nach §67 Abs.1 StGB beim Ablauf von 15 Jahren, spätestens aber am 10.12.1958, dem Tag der ersten richterlichen Handlung gegen den Angeklagten E. (Erlass des Haftbefehls) eingetreten gewesen.

Die Verjährung hat in diesem Falle auch nicht gemäss Art.1 des Ahndungsgesetzes von Württemberg-Baden vom 31.5.1946 (Reg.Bl. S.171) i.V. mit §69 StGB geruht.

Bei der hier zur Beurteilung stehenden Tat handelt es sich nicht um ein Verbrechen, das nach Grundsätzen der Gerechtigkeit, insbesondere auch wegen der Gleichheit aller vor dem Gesetz eine nachträgliche, ausserhalb der Verjährungszeit liegende Sühne verlangen würde. Dieses Verbrechen erscheint dem Schwurgericht nicht so ungeheuerlich und schwerwiegend, als dass es auch heute noch - nach Ablauf der allgemeinen Verjährung - eine Sühne verlangen würde.

Das Verbrechen ist anders zu beurteilen als das der Vernichtung von Juden allein ihrer Rasse wegen. Dieses Verbrechen hier war auch mit bedingt durch die Kriegs- und Feindeslage. Jeder, der zum Feind hin flüchtete, erhöhte das feindliche Kampfpotential, hier vor allem das der immer bedrohlicher gewordenen Partisanen, deren Kampf täglich deutsche Soldaten, teilweise unter grausamen Umständen, zum Opfer fielen. Hinzu kommt, dass nach der unwiderlegten Einlassung des Angeklagten E. Anweisungen und Befehle von höchster Stelle vorlagen, bei Flucht von Gefangenen zur Abschreckung